Verein für experimentelle Musik Darmstadt
Es gibt keine Töne mehr - oder doch?
(Hans Essel, 1992)Beispiele experimenteller Musik in der Arheilger Kunstfabrik
Der Ton macht die Musik. Diese Binsenweisheit entpuppt sich als brisant, wenn nicht mehr sicher ist, ob man heute noch Töne hat. Dann wäre nämlich die Musik am Ende. Die Rede ist nicht vom alltäglichen Quälmuzak der Hintergrundberieselung, sondern von gegenwärtiger Musik als künstlerischer Ausdrucksform. Gibt es also noch Töne?
Der Verein für experimentelle Musik Darmstadt stellte in zwei Konzerten in der Kunstfabrik Arheilgen Künstler vor, die diese Frage verneinen. Es gibt keine Töne mehr.
Stephan Wunderlich und Edith Rom
Stephan Wunderlich und Edith Rom aus München stellten daher konsequenterweise "Tonversuche" vor, fünf Annäherungen an Erzeugung von Ton in einem System, in dem Töne nicht mehr durch die klassischen Parameter Höhe, Dauer, Intensität und Klangfarbe, sondern durch Dimensionen charakterisiert werden.
Wunderlich/Rom gehen hierbei streng sequentiell vor. Einzelne Töne werden, geglückt oder mißglückt, im Wechsel von beiden Künstlern hervorgebracht, im ersten Durchgang mit den Stimmen, im zweiten mit zwei Geigen, im dritten mit Sinusgeneratoren und kleinen Lautsprechern, im vierten mit Licht (Lichtbewegungen von Taschenlampen auf eine Wand), im fünften mit Schrittfolgen. Die letzten beiden Durchgänge reflektieren die Methode der Annäherung auf tonloser Ebene.
Das Publikum nutzte die Gelegenheit zu ausführlicher Diskussion, und die Künstler gaben bereitwillig Auskunft. Trotz des radikalen Ansatzes empfanden viele Hörer das Ergebnis als expressiv. Andererseits erschien die Übertragung von Tonsuchen auf Lichtbewegung und Schrittfolgen noch nicht ganz einleuchtend. Aber beim Einblick in die Werkstatt soll ja auch eher die Fragestellung interessieren als das Ergebnis. Man ging durch neue Erfahrung angeregt nach Hause.
Peter Wießenthaner
Im zweiten Konzert führte Peter Wießenthaner mit seinem "Ensemble für experimentelle live-elektronische Musik Frankfurt/M" eine im Grundsatz sehr ähnliche Versuchsanordnung vor: Eine dreiteilige Komposition für Stimme, Tonband und Dias, ebenfalls streng sequentiell aufgebaut.
Im ersten Teil waren acht Sequenzen mit den acht Vokalen gleichzeitig akustisch und, auf Tonband aufgenommen und mit kleiner Verzögerung wiedergegeben, über Lautsprecher zu hören. Das Tonbandmaterial ist dabei so präpariert, daß rhythmisierende Pausen entstehen. Durch den Abstand zu den Mikrophonen können Mischungen zwischen akustischen und bearbeiteten Tönen erzeugt werden.
Im zweiten Teil wurden Diaaufnahmen des Mundes beim Formen der Vokale von Robert Harnischmacher anhand der gleichen - übertragenen - Partitur projiziert.
Im dritten Durchgang wurde das vorher bespielte Band abgespielt, wobei jetzt die starke Rhythmisierung durch die Präparation die Stimme abstrahierte. Dadurch entsteht eine neue Version des ersten Teiles. Bernhard Günther verwendete einen kleinen Teil des Tonmaterials von Peter Wießenthaner für eine Computerkomposition. Das Stück, in digitaler Aufnahme von feinsten Geräten wiedergegeben besteht aus sehr leisen, in sensiblen Nuancen abgestuften Tönen vornehmlich aus dem Rauschspektrum. Das ferne Geräusch von Flugzeugen und Zügen ließ sich vom Hörer ohne weiteres in die Komposition mit hineinhören.
In der Diskussion interessierte die Hörer auch hier der Gegensatz zwischen strengem rationalen Ansatz und expressiver Realisation. Muß die Realisation nicht Assoziationen ausschalten, die das Konzept verdecken? Manche fanden, daß die Klarheit des ersten Teiles durch die Übertragungen auf Bilder und rhythmisierende Bandaufnahme zurückgenommen wurde, und daß die Computerkomposition nicht den gleichen konzeptionellen Ansatz erkennen ließ.
Die beiden Konzerte haben gezeigt, daß der Verein Darmstadt ein Forum eröffnet hat, in dem Hörer mit ungewöhnlichen Künstlern ins Gespräch kommen können.