Verein für experimentelle Musik Darmstadt
Präzise Schwankungen
(Hans Essel, 1998)Töne und deren Folgen: experimentelle Musik in der Kunstfabrik.
Trotz herrlichstem Biergartenwetter fand sich eine kleine Schar, die neugierig genug auf Stephan Wunderlichs "Schwankungen" war, um den Abend in der Kunstfabrik zu verbringen, anstatt vor einem kühlen Bier. Das gab es immerhin etwas später. Davor aber ein geradezu heiter konzentriertes Spiel mit "Tönen". Wunderlichs Töne sind nicht herkömmliche Töne, daher die Anführungszeichen. Sie können auch Schrittfolgen, Lichtbewegungen einer Taschenlampe, Kreidezüge auf Tafel oder Brummen elektrischer Schaltkreise sein.
Posaune, Xylophon, Maultrommel und Stimme sind da eher gebräuchlich, nicht jedoch die Art, wie das Ensemble mit Stephan Wunderlich, Edith Rom und Jörg Burghard sie verwendet. Louise Ingebos, fest zum Ensemble gehörend, war leider kurzfristig verhindert. Die Kreide quietscht, kratzt und knirscht, Stephan Wunderlich schlurft, springt, schreitet vor und zurück, dem Lautsprecher werden unterschiedlichste Brummtöne entlockt, und das Xylophon hat man so noch nie von einem Fachmann spielen gehört.
Die "Töne" werden allein gespielt, einer nach dem anderen, nach genauem Plan. Später erfährt man, es waren 5 "Sätze" aus je 27 "Tönen", ja sogar den gleichen 27 "Tönen", nur verschieden instrumentiert. Und doch klang keins wie das andere. Wie das? Wunderlich hat bereits im "Sequenzenprojekt" eine Charakterisierung von "Tönen" entwickelt, die über die üblichen Parameter weit hinaus geht. So ein "Ton" wird beispielsweise durch drei Parameter mit je drei Werten bestimmt, das ergibt besagte 27 verschiedene "Töne". Die drei Parameter werden nun dem eingesetzten Instrument entsprechend gewählt. Also läßt sich das auch auf Schrittfolgen übertragen: da könnte ein Parameter die Schrittlänge sein, die klein, mittel oder groß wäre. Somit lassen sich vollständige Tonfolgen anordnen, wobei aber jede Tonfolge je nach Instrumentierung völlig anders erscheint, obwohl die Abfolge der Parameter immer die gleiche ist.
Soweit die Präzision. Die Idee der vollständigen Durchschreitung eines Parameterraumes und der Tonfolgen ist präzise. Wo kommen also die Schwankungen her? Nun, die vorgeschriebenen Parameter sind Anweisungen an die Spieler. Diese Anweisungen sind so, daß ein Ergebnis nur angestrebt werden kann. Der Versuch dieser Annäherung ergibt eine ständige Bewegung im "Ton", also Schwankungen.
Waren die "Sequenzen" durch eine kleine Auswahl an "Tönen" und durch eine Zeitstruktur von Spiel und Pause gekennzeichnet ("Zeit wird spürbar - Platz für Gedanken" hieß es 1993 im Echo), zeigte das Ensemble jetzt ununterbrochene vollständige Tonfolgen. Die Mischung aus präzisem Plan und stringenter mannigfaltiger Ausführung ergab ein kurzweiliges Spiel. Die anschließende ausgiebige Diskussion zeigte das Interesse, nach der außergewöhnlichen Wahrnehmung auch die Hintergründe zu erfahren.